Director of the Festival Theater der Welt Chiaki Soma is looking forward to the upcoming festival edition.

Gedanken der Programmleitung


Seit ich die Programmleitung von Theater der Welt 2023 übernommen habe, bin ich mit dem Programm-Team und den teilnehmenden Künstler:innen über die Gestaltung des Festivals im Gespräch. Auf diesen Gesprächen basiert der folgende Text, der einige programmatische Grundgedanken des kommenden Festivals festhält, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, was wir in den nächsten Monaten umsetzen möchten.   

1. Die Welt pluralisieren 

Was bedeutet Theater der Welt? Als erste Nicht-Europäerin, die das Programm dieses Festivals in seiner vierzigjährigen Geschichte verantwortet, möchte ich die titelgebenden Begriffe des Festivals Theater, Welt und Festival einem Perspektivwechsel unterziehen. Statt als einheitlichen Raum, der von einer zentralen Perspektive aus überblickt und definiert werden kann, schlage ich vor, über die Welt im Plural nachzudenken – und damit über ein Theater der Welten.   

In unserem Festival werden mehrere Welten vertreten sein. Unser Ziel ist es, diesen Welten mit ihren vielen Stimmen, ihren unterschiedlichen Geschichten und vielfältigen Perspektiven Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass viele Menschen heute mehrere Welten zugleich bewohnen. Anstatt die Welt binär in Ost/West, Süden/Norden, männlich/weiblich, menschlich/nicht-menschlich usw. einzuteilen, gehe ich – wie viele andere – davon aus, dass diese und andere Zuschreibungen in allen Menschen in einem Kontinuum existieren und sich überschneiden. Und ich möchte betonen, dass unsere geteilten Welten dabei keineswegs nur um den Menschen kreisen, sondern auch andere Lebewesen und unbelebte Dinge umfassen. Diesen Überlegungen möchte ich weiter folgen.

2. Inkubationismus praktizieren

Als weiteren konzeptionellen Anker meiner Kuration schlage ich den Begriff Inkubationismus vor. Mit dem Wort Inkubation verbinden sich verschiedene Assoziationen: einerseits das Entstehen von neuem Leben, andererseits die oft beunruhigende Phase vor dem Ausbruch einer Krankheit. Während der anhaltenden Covid19-Pandemie haben viele Menschen in Quarantäne oder in Selbstisolation Inkubationszeiten durchlebt, ohne zu wissen, wie lange diese Zustände andauern und wohin genau sie führen würden. Einige mögen solche Zeiten des Wartens als besonders einschränkend und unproduktiv empfinden. Ich glaube aber, dass uns durch Inkubationserfahrungen (im doppelten Sinne des Wortes) auch etwas bewusst werden könnte. Zum Beispiel, dass wir alle potenzielle Patient:innen sind, die Fürsorge benötigen. Dass unsere Körper und unser Leben – ebenso wie die Viren – zu einem größeren Ökosystem gehören. Und dass wir daher lernen müssen, nicht-menschliches Leben und den Planeten als Ganzes zu respektieren, und dass unsere kognitiven und sozialen Systeme dringend auf Harmonie und Koexistenz mit allen Dingen auszurichten sind. Wir müssen uns (wieder) an unbestimmte, nichtlineare Zeitlichkeiten gewöhnen. Inkubationszeiten – Zustände der Ungewissheit und des Aussetzens – können auch als generatives Moment verstanden werden, vielleicht sogar als Quelle der Kreativität. Diese Haltung nenne ich Inkubationismus.  

Inkubationismus wird Bezugspunkt für Gespräche und kritische Auseinandersetzungen sein, während wir jeden einzelnen künstlerischen Beitrag gemeinsam mit den Künstler:innen reflektieren und dabei Wege in noch unbekannte Zukünfte entdecken wollen. Diese gedankliche Rahmung ermöglicht es uns außerdem, Verbindungen herzustellen zwischen den internationalen Programminhalten und den Orten des Festivals, zwischen Künstler:innen und Publikum sowie zwischen den prä- und post-pandemischen Zeiten.  

Die Projekte der Festivalkünstler:innen werden sich dem Konzept des Inkubationismus in unterschiedlichen Formen widmen. Beispielsweise wird sich das Museum Angewandte Kunst – eines der Zentren des Festivals – in eine große Inkubationskapsel verwandeln, wo tagsüber und nachts – einmal sogar bis zum Morgengrauen (am 8. Juli) – atmosphärische Räume, Zeremonien und Performances der Kontemplation, des Träumens, der Heilung und der Re-Generation zu erleben sein werden. Dieses eigens kuratierte Kunstprogramm heißt Incubation Pod. Dreaming worlds.

3. Theater durch virtuelle Realitäten erweitern  

Theater der Welten wird auch ein Raum der Befragung des Theaters sein, aus der ein neues Verständnis seiner verschiedenen Ausdrucksformen hervorgehen kann. Wir begrüßen künstlerische Experimente, die unsere Beziehungen mit der Welt erforschen und die auch kritische Ansätze zu zentralen Elementen des westlichen Theaters – wie Dramatik, Text und Visualität – verfolgen. Wir unterstützen auch transdisziplinäre und experimentelle künstlerische Arbeitsweisen, die die Grenzen konventioneller Theaterformen überschreiten.  

Ein programmatischer Fokus wird auf performativen Projekten liegen, die VR- und AR-Technologien einsetzen, um Körper und Wahrnehmung zu befragen. Einige von ihnen werden erstmals in Europa zu erleben sein. Virtual Reality und Augmented Reality sind Technologien, die die Sinne ihrer Nutzer:innen sowohl erweitern als auch täuschen. Wie lernen wir unsere Körper anders kennen, während wir neue Sinneserfahrungen und Reisen machen? Diese und andere Fragen begleiten uns, wenn wir mit den Künstler:innen den längst verschwimmenden Grenzen zwischen digital und analog und zwischen real und virtuell nachspüren und neue Dramaturgien für das digitale Zeitalter entwickeln.   

So planen wir auch, Teile des künstlerischen Programms in den digitalen Raum des Metaversum auszudehnen, um es möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen – zu Hause und über Distanzen hinweg. Damit erkunden wir einen neuen Möglichkeitsraum.

4. Zwei Städte verbinden / dem Flusslauf folgen  

Offenbach und Frankfurt, die gastgebenden Städte dieser Ausgabe von Theater der Welt, sind durch den Main verbunden. Theater der Welten folgt dieser uralten Geografie und setzt sich mit dem Fluss und seiner urbanen Umgebung künstlerisch auseinander. Wir arbeiten mit Künstler:innen und Studierenden zusammen, um Projekte entlang des Flussufers zu entwickeln, die Besucher:innen und Teilnehmer:innen einladen, Inkubationismus zu erleben und zu praktizieren, während sie sich zwischen den städtischen Räumen bewegen. Diese künstlerischen Ideen und Aktivitäten werden sich mit Problemen wie Klimawandel, Energiekrise und Migration auseinandersetzen, mit denen Menschen vor Ort und auf globaler Ebene konfrontiert sind. Sie zielen auch auf soziale Praktiken ab, die lokale Gemeinschaften einbeziehen und über die Festivalzeit hinaus weiterwirken.

5. Räume öffnen für Kontemplation, Heilung und Erholung 

Leben ist fragil und wir alle sind für Krankheiten anfällig – daran erinnert uns auch das Coronavirus. Debatten über geteilte Verletzlichkeiten und eine neue Ethik der Fürsorge (Care) haben in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen.   

Noch immer sind jedoch die meisten Kultureinrichtungen und Veranstaltungsprotokolle für gesunde Menschen ohne Behinderungen standardisiert. Sie müssen spätestens jetzt – im post-pandemischen Zeitalter – neu und zugänglicher gestaltet werden. Theater der Welten wird Maßnahmen ergreifen, um es Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu ermöglichen, am Festivalprogramm teilhaben zu können.  

Basierend auf den imaginativen und regenerativen Potenzialen der Kunst kann das Festival außerdem ein Raum gegenseitiger Fürsorge sowie der sozialen und kulturellen Erholung sein. Theater der Welten schafft Angebote insbesondere auch für junge Menschen, deren Aktivitäten und Möglichkeiten der Selbstentfaltung in den letzten Jahren pandemie-bedingt stark eingeschränkt waren. Im Dialog mit dieser jungen Generation versuchen wir, der Zukunft einen Sinn zu geben, und auch zu lernen, gemeinsam mit Ungewissheit umzugehen.   

Darüber hinaus versammelt Theater der Welten künstlerische Arbeiten, die über die zentrale Stellung menschlicher Akteur:innen hinausblicken. Sie legen eine Fürsorge-Ethik nahe, in der wir unser Handeln solidarisch und harmonisch mit anderen Menschen sowie auch mit nicht-menschlichen Körpern und Kräften gestalten, die unsere Welten und Lebensräume konstituieren.   

Während sich aktuell vielerorts gewalttätige Konflikte fortsetzen, sich die Energiekrise ausweitet und die Pandemie weiter anhält, versprechen die kommenden Monate erneut große Unsicherheiten und Instabilität mit sich zu bringen. Auch Theater der Welten ist gegen die Auswirkungen dieser Entwicklungen nicht immun. Doch womöglich kann uns Inkubationismus hier als widerständige Haltung helfen, die mit Ungewissheiten umgeht, die uns durch Schwebezustände trägt und dabei re-generative Phasen der Reflexion und Kreativität einräumt.   

Ich plane dieses Festival also unter dem Eindruck von Ungewissheiten und Inkubationserfahrungen. Und dabei wünsche ich uns, dass wir dem künstlerischen Vorstellungsvermögen mit Flexibilität und Offenheit begegnen, da es uns helfen kann, schwierige Zeiten zu überwinden. Ich freue mich darauf, Sie zu einem außergewöhnlichen internationalen Programm wegweisender transdisziplinärer Kunst einzuladen.   

Chiaki Soma

Programmleitung, Theater der Welt 2023